Einführungsrede zur Ausstellung Kissing, Schneeberger, Tschauner: „Der Raum-die Zeit-Das Licht“
Wir treffen hier auf drei Künstlerinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die sich doch bestens verstehen. 
Angelika Kissing, Angelika Schneeberger und Gisela Tschauner haben seit vielen Jahren ihre Ateliers im Frechener Signalwerk, wo sie in friedlicher, oder besser gesagt in fröhlich-kreativer, freundschaftlicher Kooexistenz arbeiten – so jedenfalls habe ich sie bei meinen gelegentlichen Besuchen erlebt. In dieser Ausstellung beschäftigen sie sich mit Phänomen, die nicht nur in einem Künstlerleben von besonderer Bedeutung sind: Raum, Licht und Zeit.
Angelika Kissing erschafft Räume – auf der Leinwand und in dreidimensionaler Form, denn sie ist sowohl Malerin als auch Keramikerin. Den abstrakten Gemälden, die an diesem sonnigen Vormittag eine so intensive Leuchtkraft entfalten, liegt ein langer Entstehungsprozess zugrunde, der bis zu sechs Monaten dauern kann.
Schicht um Schicht und in vielen Arbeitsgängen wird die großflächige All-over-Malerei in nuancenreicher Farbsetzung aus großen und kleinen Flächen aufgebaut. Die experimentierfreudige Künstlerin lässt für die Untermalung die Farbe frei fließen; dann bringt sie klare geometrische Formen wie Rechteck, Vieleck und Kreis auf, die die Fläche rhythmisieren. Sie arbeitet außerdem mit Gittermustern und balkenartigen Verschränkungen, durch die sie Verdichtungen und Durchblicke erzielt. Angelika Kissings Bildräume entstehen aus der sicheren Erfahrung eigener malerischer Gesetze, die sie häufig in Serien durchdekliniert. Dabei verwendet sie zumeist gebrochene, stumpfe Mischfarben, die jedem Bild eine spezielle Stimmung verleihen.
Der Wechsel von transparenten und pastosen Flächen sorgt ebenso für Spannung wie eingedruckte Muster, die man häufig erst wahrnimmt, wenn man nah an die Leinwand herantritt. Bei anderen Exponaten zieht uns die räumliche Wirkung in Bann. Angelika Kissing findet in Bezug auf Farbe, Flächenorganisation und Bildvokabeln zu immer neuen wohl durchdachten Bildlösungen, deren Formenvielfalt anregt und fasziniert.
Bei aller Begeisterung für die Malerei ist sie der Keramik dennoch treu geblieben. Einen schönen Kontrapunkt zu den Gemälden bilden die tönernen Giebelhäuser mit den bedruckten Oberflächen, die sie aus Tonplatten und Tonstreifen aufbaut. Für die Oberflächengestaltung verwendet Angelika Kissing Fotografien aus Zeitungen, aus dem Internet und dem privaten Familienalbum, die durch ein spezielles Umdruckverfahren auf das Objekt gebracht werden. Folge des Umwandlungsprozesses ist eine Vereinfachung, durch die das dokumentarische Motiv in abstrakte Zeichen übersetzt wird. Wir als Betrachter bemühen uns um Entschlüsselung, müssen uns aber zumeist mit Fragmenten zufriedengeben. Angelika Kissing verbindet Räumliches und Zeitliches und eröffnet Assoziationsräume, die jeder auf seine Weise füllen mag.
Angelika Schneeberger gibt uns keine Rätsel auf. Ihre Landschaftsgemälde sind vielmehr von einer so verführerischen Schönheit, dass man sich nicht an ihnen sattsehen kann. Licht ist der Begriff, der ihren Werken zugeordnet ist – das hätten Sie vermutlich auch ohne diesen Hinweis erkannt. Angelika Schneeberger hat sich der altmeisterlichen Ölmalerei und ihren klassischen Themen – Landschaften, Stillleben und Interieurs - verschrieben, die sie auf ganz eigene Art neu belebt. Wie eng sie der Natur und der Landschaft verbunden ist, offenbart sich auf den ersten Blick.
Angelika Schneeberger ist gern im Freien unterwegs – und zwar zu allen Jahreszeiten. Sie liebt die Weite der Ebene, wie sie sich auf Usedom, Norderney und - gar nicht so weit entfernt – im Hohen Venn darbietet. Hier findet sie die Motive, die sie mit visuell sicherem Gespür, mit wachem Sinn für eine ausgewogene Komposition und spürbarer Empfindung im Bild festhält. Himmel, Witterung und Licht spielen dabei immer eine besonders Rolle.
Die stimmungsträchtigen menschenleeren Darstellungen nehmen gesehene Wirklichkeit mit, sind aber keine detaillierten Ansichten, sondern ordnen sich der autonomen Handschrift und den kompositionellen Vorstellungen der Künstlerin unter. Ihre Bildsprache verbindet Wiedergabe mit abstrahierenden Tendenzen und entfaltet mit ihrer besonderen Lichtführung und der eingefangenen Stille eine kontemplative Wirkung, die durch bewegte Wolkenbilder allerdings immer wieder gebrochen wird.
Landschaftserfahrung und -wahrnehmung verändern sich während des Malvorgangs. Sie werden durch die Erinnerung gefiltert und umgestaltet und stellen schließlich so etwas wie die Quintessenz aus Natureindrücken dar, die die Malerin im Verlaufe vieler Jahre in sich aufgenommen hat. „Nicht das Exotische, Unbekannte ist für mich wichtig, sondern meine persönliche Sicht beim Gang durch die eigentlich bekannte Natur, mit der ich Bodenhaftung, gedankliche Ruhe und oft neue Einsichten verbinde“, sagt sie selbst.  
Angelika Schneebergers Gemälde sind also nicht allein auf den Erlebnisort bezogen. Vielmehr verdichten sie in gekonnter malerischer Reduktion eine bestimmte Atmosphäre und werden auf diese Weise zu allgemein gültigen Aussagen über Natur, Zustand und Wandel. Man könnte Landschaftsmalerei im 21. Jahrhundert für überholt halten – Angelika Schneeberger liefert uns den überzeugenden Gegenbeweis.
Ein besonderer Zauber geht auch von ihren Zeichnungen aus. Das Skizzenbuch, das sie bei ihren Streifzügen immer zur Hand hat, dient dabei als Ideenfundus. Einzelne Motive werden später im Atelier neu kombiniert, und dabei macht es ihr eine diebische Freude, Betrachter in die Irre zu führen, wenn sie etwa verschiedene Blattformen an einem Baum kombiniert, wie sie in der Natur tatsächlich nicht auftreten.
Altmeisterliche Qualität haben auch die Darstellungen vertrockneter Pflanzen und Schnecken, die uns viel von der Geduld und der ausgeprägten Beobachtungsgabe der Künstlerin erzählen.
An Ausdauer wird Angelika Schneeberger von ihrer Künstlerkollegin Gisela Tschauner allerdings noch übertroffen. Die Kategorie Zeit hat ihrem Werk einen ganz besonderen Stellenwert. Sie wird für uns als Besucher schon physisch erlebbar, wenn wir den 10 Meter langen Fries abschreiten, den sie mit orientalischer Ornamentik und Geschichten aus 1001 Nacht bemalt und beschrieben hat. Die Ausstellung in diesem Raum macht es möglich, das Werk einmal in Gänze zu zeigen, und darüber hat sich Künstlerin ganz besonders gefreut.
Der Umgang mit Literatur ist seit langem essentieller Bestandteil von Gisela Tschauners Schaffen. Marcel Proust ist seit Anfang der neunziger Jahre so etwas wie ihr ständiger Begleiter, zumal ihr die Hauptschauplätze seines Werkes, die Normandie und die Bretagne, gut bekannt sind.
Der intensiven literarischen Beschäftigung folgte bald darauf die künstlerische Auseinandersetzung. Zunächst entstand ein großes Buchobjekt, das den Zauber der französischen Landschaft einfängt, viele weitere sind seither gefolgt. Sie haben gleich mit ausdrücklicher Erlaubnis der Künstlerin das große Vergnügen, darin zu blättern und den haptischen Reiz der schweren, farbgetränkten Leinwände erfassen.
Dichtung und auch Musik fließen bei Gisela Tschauner unmittelbar in die Struktur der Bilder ein. Über Jahre hinweg hat sie Motivlinien und Themen verfolgt und entwickelt, die sie zu Zyklen und Serien zusammengefasst hat. Dank ihrer Vielschichtigkeit und der einzigartigen Verbindung von Geistigem und Sinnlichem ist über Jahre ein Werk entstanden, dass sich durch eine unverkennbare charakteristische Handschrift auszeichnet. Dabei scheut Gisela Tschauner auch vor körperlichen Grenzerfahrungen im Produktionsprozess nicht zurück.
Marcel Proust hat sie sich vor Jahren lesend und schreibend zugleich angenähert: in der linken Hand den Band „Im Schatten junger Mädchenblüte“, in der rechten einen weißen Tuschestift, mit dem sie den Originaltext auf eine schwarze Leinwand geschrieben hat.
In einem langen meditativen Vorgang hat die Künstlerin mit ihrer schwungvollen Handschrift damals sieben Leinwände im Format 150 mal 110 Zentimetern bedeckt.
Auch jetzt sind Sie eingeladen, die Texte auf den Leinwänden zu entziffern. Vielleicht gewinnen Sie ja Geschmack am sprachlichen Reichtum, der sich dabei eröffnet. Doch haben die Schrifttafeln mit ihrer weit gefächerten Grauskala, ihren Verschiebungen und streifenartigen Strukturen durchaus einen künstlerischen Eigenwert.
Kaum einer von uns wird sich der Zeiterfahrung mit künstlerischen Mitteln annähern. 
Was wir aber aus dieser Ausstellung mitnehmen können, ist die Sensibilisierung für Raum, Licht und Zeit, die uns Angelika Kissing, Angelika Schneeberger und Gisela Tschauner hier so überzeugend vorführen.


                        Hanna Styrie, im April 2017