Stilles Leben

 

Nora Probst


Eröffnung der Ausstellung „Stilles Leben ?“


von Mechthild Roth-Reinecke (Fotografie) und Angelika Schneeberger (Malerei)
am 9.6.2013 im Eschweiler Talbahnhof / Eschweiler Kunstverein


Herzlich Willkommen zur Vernissage der Ausstellung „Stilles Leben?“ des Eschweiler
Kunstvereins! Mir kommt heute die ehrenvolle und erfreuliche Aufgabe zu, Ihnen die
Exponate und die Künstlerinnen mit einigen einführenden Worten vorzustellen.
Außerdem möchte ich Ihnen ein paar Einblicke in die Idee und die Entwicklung dieser
Ausstellungskonzeption geben, denn hinter den präsentierten Fotografien und
Gemälden, die Sie heute in diesen Räumlichkeiten zu sehen bekommen, verstecken
sich wundersame Geschichten. Ich möchte Sie also einladen, mit mir auf eine kleine
Spurensuche zu gehen, die sich mit dem Geheimnis der Schönheit alltäglicher Dinge
befasst.
Doch vorab noch eine kleine Anekdote, gewissermaßen als Vorgeschmack auf die
Lukullik, die raffinierte Üppigkeit, dieser Ausstellung: Die vielleicht berühmteste
Geschichte über das Stillleben reicht zurück bis ins 4. Jahrhundert vor Christus. Über
den bekanntesten Maler des alten Griechenlands, Zeuxis von Herakleia, ist
überliefert, dass dieser so täuschend echte Trauben malen konnte, dass sich selbst
Vögel davon beirren ließen und versuchten, an ihnen zu picken. Parrhasios, ein
ebenfalls anerkannter Maler, forderte Zeuxis in einem Wettstreit heraus und stellte
ein Gemälde vor ihn, das mit einem Vorhang verhüllt war. Als Zeuxis neugierig
fragte, was denn hinter dem Vorhang zu sehen sei, und versuchte, ihn zur Seite zu
schieben, lächelte Parrhasios bloß – denn der Vorhang war nur gemalt.

Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen aus der Antike geht es den beiden
Künstlerinnen, Angelika Schneeberger und Mechthild Roth-Reinecke, weniger um
eine täuschend echte Reproduktion der Wirklichkeit, sondern sie begeben sich über
ihre Werke vielmehr in einen fruchtbaren Dialog miteinander und wenden sich in ihrer
gemeinsamen Ausstellung den Dingen zu, jede in ihrer eigenen Ausdrucksform, in
ihrem eigenen künstlerischen Metier. Die Spurensuche dieser Ausstellung beginnt mit der Beobachtung, dass Dingen die Fähigkeit innewohnt, Geschichten zu
erzählen. Dinge umgeben uns täglich, sie sind überall. Und doch ist ihre
"All-täglichkeit" bisweilen nicht so unbedeutend, wie es auf den ersten Blick scheint.
Ihnen wohnt gewissermaßen eine Art Eigenleben inne, das unser Interesse wecken
und unsere Phantasie anregen kann. Vielleicht verbindet man beispielsweise mit
einem Fernglas ein ganz bestimmtes Erlebnis, denkt an einen ganz bestimmten
Menschen oder fühlt sich an eine bestimmte Situation erinnert. Ich muss zum
Beispiel beim Anblick eines Fernglases immer an meinen Großvater denken, der
Jäger war. Auf dem Fenstersims zur Terrasse meiner Großeltern im Schwarzwald
lagen stets mehrere Ferngläser, mit denen mein Großvater noch im hohen Alter, als
er bereits im Rollstuhl saß, den Waldrand am Hügel gegenüber nach Rehen
absuchte. Für mich haben Ferngläser immer etwas mit ihm zu tun. Sie erinnern mich
an ihn.
Die Bilder der beiden Künstlerinnen laden zu solchen Assoziationen ein. Hinter der
Ausstellung steckt die Überzeugung, dass sich in Bildern mehr verbergen kann, als
das, was auf den ersten Blick zu sehen ist. Unter den abgebildeten Objekten
befinden sich sehr persönliche Gegenstände, darunter Souvenirs und Erbstücke,
deren Aura angereichert ist mit persönlichen Erinnerungen und Erlebnissen. Mal ist
es ein Spiegel, in dem nichts zu sehen ist – oder sagen wir besser, fast nichts. Sehen
Sie nochmal genau hin, vielleicht entdecken Sie ja doch etwas. Mal ist es eine
Holzkiste, die katzengleich mit einem Wollknäuel zu spielen scheint. Ein anderes Mal
sehen wir auf einem Polaroid den Ausschnitt eines Tisches, darauf eine
Spitzendecke und Blumen – und auf der Tischdecke ein Foto, ein Polaroid im
Polaroid. All diese Zeitzeugen erzählen Geschichten, die das Leben geschrieben hat;
sie entstehen im Moment des Malens oder des Fotografierens – und werden später durch das Betrachten in neuen Kontexten belebt.
Auch die Zusammenarbeit zwischen Angelika Schneeberger und Mechthild Roth-
Reinecke hat eine eigene Geschichte. Sie geht zurück auf ein Zusammentreffen im
Signalwerk Frechen, wo beide ihre Ateliers haben. Während des gemeinsamen
Betrachtens ihrer Gemälde und Fotografien stellten sie fest, dass sich ihre Werke mit
ähnlichen Themen auseinandersetzen, ähnliche Motive aufgreifen, dass ihr Blick auf
Details in vielen Fällen eine Art Wesensverwandtschaft aufweist. Zum Teil sind die
fotografischen Arbeiten dieser Ausstellung sogar in Anlehnung an die Motive der
Gemälde entstanden. Aus diesen ersten Berührungspunkten einer gemeinsamen Formensprache entstand schließlich die Idee einer Ausstellung von Bildern im
Dialog. Mit der kuratorischen Entscheidung einer gemeinsamen Ausstellung von
Malerei und Fotografie bewegen sich die beiden Künstlerinnen gewissermaßen am
Puls der Zeit: So ist etwa seit Mitte Mai im Kölner Wallraf-Richartz-Museum ebenfalls
eine vielbeachtete Ausstellung zu sehen, die sich mit dem Dialog zwischen Malerei
und Fotografie befasst. Doch während es dort um Porträts geht, stehen bei Angelika
Schneeberger und Mechthild Roth-Reinecke Objekte, Gegenstände, Zeitzeugen im
Mittelpunkt des Interesses.
Betritt man den Talbahnhof, Ausstellungsfläche des Eschweiler Kunstvereins, so fällt
einem gleich das Ausstellungsplakat ins Auge, das in den Komplementärfarben grün
und rot gehalten ist. Komplementarität lässt sich gemeinhin fassen als die
Zusammengehörigkeit zweier scheinbar gegensätzlicher, sich aber ergänzender
Merkmale oder Eigenschaften. Das Plakat, in dem sich also durch die Kombination
zweier unterschiedlicher Elemente eine neue Strahlkraft der Farben ergibt, erweist
sich damit als Sinnbild für ein ausgeprägtes Gespür der Künstlerinnen für die
effektvolle Verbindung auch ihrer Unterschiede.
Die Hängung im Flur der Ausstellung verdeutlicht paradigmatisch den Kerngedanken
des Dialogs: Die Fotografien und Gemälde hängen einander gegenüber und treten miteinander in ein wechselseitiges Spannungsverhältnis, das sich aus den Motiven,
aus der Farbgebung oder auch aus der Beleuchtung heraus ergibt. Hier wirkt
plötzlich die Fotografie einer Schüssel mit Zitronen durch die detailreiche Oberfläche
wie gemalt, dort erwecken die gemalten Spiegelungen eines Fensters in der
Messingschale Erinnerungen an eine fotografische Bildsprache. So bedienen sich
die malerischen Werke ebenso erfolgreich eines fotografischen Blicks, wie die
fotografischen Arbeiten malerische Elemente aufgreifen und einbauen. Aus diesem
Spannungsverhältnis ergeben sich neue Möglichkeiten, um den besonderen
Eigenheiten der Dinge im Hinblick auf die Form und Farbe der Motive, auf
Arrangement und Lichtsetzung nachzuspüren. So sind beispielsweise fotografische
Arbeiten zu sehen, die bewusst mit dem Moment der Unschärfe spielen und mit ihren
‚Verwisch-Techniken‘ an malerische Gestaltungsmöglichkeiten anschließen. Die
Fotos zeigen Innenräume eines Hauses, in diffuses Licht getaucht, es dominieren
warme gelb-braune Farbtöne, auf einem Foto hängt ein Gemälde, ein Porträt an der
Wand, im Vordergrund ist ein altes Buch zu sehen. Der Eindruck von Stilmitteln der Malerei wird hier nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass alle Motive irgendwie alt, antik,
fast verstaubt anmuten. Was ist das für ein Raum? Und was fand in ihm statt? Wer
lebte hier? Und wer oder was führte die Fotografin hierhin?
In einem anderen Austellungsraum begegnet uns eine Serie von Kohlezeichnungen,
deren harte Kontraste und auffällige Perspektive in Form von einer direkten Aufsicht
ebenfalls einen artifiziellen Fotografiecharakter erhalten. Dabei nutzt Angelika
Schneeberger die Kohlezeichnungen sowohl als Vorstudien, die der Motivfindung
dienen, als auch als selbstständige Auseinandersetzung mit den Objekten und
Arrangements. Diesen Zeichnungen gegenüber hängt eine Reihe von Gemälden und
Pastellkreide-Zeichnungen, deren fast schon theatrale Beleuchtung die abgebildeten
Gegenstände ins Spotlight, ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Ein Fernglas,
daneben die dunkle Fernglastasche, die mit rotem Samt ausgekleidet ist. Das
Fernglas ist auf uns gerichtet, wir sehen nicht hindurch – stattdessen sieht uns das
Fernglas an und wirft unseren Blick auf das Bild zurück. Unter den Gegenständen ist auch eine braune Holzkiste, in der sich allerlei Dinge tummeln, Vasen, Töpfe, Wolle,
eine vertrocknete Rose. Daneben ein Gemälde mit kleinen, aufeinander gestapelten
Schüsseln, in denen sich grazile Lichtreflexionen widerspiegeln. Dies alles sind
Gegenstände, denen man gemeinhin vielleicht keine oder wenig Beachtung
schenken würde – hier aber werden sie zu den zentralen Protagonisten im Bild
erhoben, erfahren als Gemälde eine Aufwertung und in der Betrachtung eine neue
Präsenz.
Die Arbeitsweise der beiden Künstlerinnen setzt sich zusammen aus der
spielerischen Kombination von Geplantem und Zufälligem. Die Motivfindung ergibt
sich induktiv aus der Situation heraus: Ein Gegenstand, in neuem Licht oder aus
neuer Perspektive betrachtet, erregt die Aufmerksamkeit, der Blick wandert über die
Oberfläche, erfasst die Form, nimmt die Farbe wahr. Dann wird experimentiert, mit
Drapierungen, durch Lichtsetzung und Schattenwurf, durch Skizzen und Vorstudien,
erste Fotos entstehen. Beide Künstlerinnen bedienen sich auch des Mediums der
jeweils anderen: Angelika Schneebergers Gemälde beruhen in der Regel auf
Fotografien, die sie selbst zu Studienzwecken anfertigt. Sie nutzt aösp in aller Regel
den Zwischenschritt der Fotografie, um die Komposition des Gemäldes letztendlich
festzulegen und schließlich zu zeichnen oder zu malen. Damit ist die Fotografie als bildgebendes Verfahren ein elementarer Baustein in ihrem Schaffensprozess. Auch
Mechthild Roth-Reinecke nutzt als Fotografin die Malerei, beispielsweise um der
Schnelllebigkeit der Digitalfotografie zu begegnen und einen persönlichen
Gegenentwurf zu entwickeln: So wird die Ausstellung ergänzt durch ihre Fotoalben,
die sie aus bemalten Leinwänden und gewachsten Papieren herstellt. In diesen
Fotobüchern setzt sie die malerische Textur und Farbigkeit in Analogie zu ihren
Fotos. Das Bild im Fotobuch erhält damit einen neuen Stellenwert, gewinnt an
Bedeutung. Die Alben bedeuten für die Fotografin eine Möglichkeit der haptischen
Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk, ein Zugriff, der sich am Material orientiert,
der jedoch angesichts der digitalen Bildspeicherung immer mehr im Verschwinden
begriffen ist. Da sich der Arbeitsplatz der Fotografie von der Dunkelkammer an den
Laptop verlagert hat, fallen ganze Arbeitsprozesse wie die selbst vorgenommene
Belichtung, Entwicklung, das Eintauchen in Wasserbäder oder das Aufhängen der
Fotos an Wäscheleinen einfach weg. Mit ihren Fotoalben bedient sich Mechthild
Roth-Reinecke also eines ganz persönlichen Zugriffs der haptischen Aufbewahrung
und Erinnerung.
Besonders anschaulich zeigt sich das Konzept der Ausstellung der Bilder im Dialog auch in diesem Raum, in dem wir uns jetzt befinden. Die Polaroids aus den 1970er
Jahren laden ein auf eine Zeitreise. Sie wirken mit ihren typischen Blau- oder
Rotstichen wie ein Zeitsprung, versetzen die Betrachterin oder den Betrachter zurück
in eine andere Zeit. Polaroids stellen die ‚analogste‘ und ‚haptischste‘ Form der
Fotografie dar, denn bereits kurz nach der Aufnahme hält man das Foto in den
Händen, während die chemischen Prozesse der Bildentwicklung noch andauern. Das
quadratische Format macht uns das Bild als Ausschnitt eines größeren Ganzen
bewusst, der Raum um die Gegenstände herum wird nur angedeutet. Hier ein
Fenster mit einem Vorhang, dort ein Glas Rotwein auf einer karierten Tischdecke –
wie könnte der Blick aus dem Fenster aussehen? was stand auf der Speisekarte?
Auf einem anderen Foto eine Kerze neben einem Tulpenstrauß – wer schenkte wem
die Blumen? Und warum brennt über der Kerze ein elektrisches Licht? Die
Fotografien erzählen nie alles, sie deuten ihre Geschichte nur an, stets bleiben
Fragen offen. Ebenso verhält es sich mit den Gemälden. Mit ihrer Serie von
Interieurs widmet sich die Malerin dem privatesten Rückzugsraum des Menschen.
Die Laken und Kissen wirken dabei bisweilen fast wie Landschaften, deren Berge, Täler und Ebenen sich über das Bild erstrecken. Diesem bewegten Szenario stehen
die geraden Linien der Lichtsetzung entgegen, die das Bild austarieren und im
Gleichgewicht halten. Die Räume werden lediglich angedeutet, Fenster erscheinen
als Schattenwürfe im Hintergrund. Diese Serie zeugt nicht zuletzt von Angelika
Schneebergers Interesse für die Stofflichkeit und die Oberflächenstruktur weicher
Formen, deren malerische Umsetzung von Faltenwürfen hohe Ansprüche an das
künstlerische Handwerk stellt. Kleinere Requisiten wie die roten Lederhandschuhe,
farblich vom Rest des Bildes deutlich abgesetzt, werfen Fragen auf und regen die
Phantasie an.
Ich möchte zum Schluss gerne noch auf den Titel der Ausstellung eingehen, der sich
auf vielfältige Art und Weise interpretieren lässt. Er greift eines der ältesten Genres
der Kunstgeschichte, das Stillleben, auf und widmet sich spielerisch genau jener
vermeintlichen Selbstverständlichkeit, mit der wir den unbelebten Dingen in unserem
Alltag begegnen: Stilles Leben? [PAUSE] Gibt es so etwas überhaupt? Ist Leben
nicht immer auch laut und bewegt? Auf eine Art ist das, was wir auf den Bildern
sehen, natürlich still. Das Bild ist unbewegt, wie ein Still-leben eben ist, still_eben.
Aber die Bildersprache, mit der die Werke uns begegnen, die Formensprache und
Farben sind beredt, die Motive und Objekte stammen aus dem Leben der
Künstlerinnen und sind dadurch mit Lebendigkeit angereichert. Die gemalten und
fotografierten Stillleben hinterfragen in der Ausstellung nicht nur das Genre selbst,
sondern eröffnen uns neue Möglichkeiten, die unmittelbare Umgebung, unseren
Lebensraum, wahrzunehmen. Sie erzählen von Erlebnissen, Begegnungen, von
Reisen oder einfach nur von der Freude an der künstlerischen Auseinandersetzung
mit den Dingen.
Und nun, meine Damen und Herren, wünsche ich Ihnen viel Freude bei Ihrer
Spurensuche und sage: Vorhang auf! – Sei er nun gemalt oder nicht.